a) Soziologisch orientierte deduktive Vorgehensweise: Gesellschaftliche, überindividuelle Faktoren sind verantwortlich, etwa Alter, Geschlecht, Beruf. Sieht die Gesamtheit alles Suizide in einer Gesellschaft, weniger das Individuum.
b) Psychoanalytisch orientierte induktive Vorgehensweise: Macht psychische, individuelle Faktoren verantwortlich, etwa psychische Entwicklung, Persönlichkeit, Krisen.
Es gilt: Suizid ist ein multifaktorales Geschehen. Das Zusammenspiel beider Theorien a) und b) sind wichtig. Es müssen immer die Innen- u. Aussenfaktoren mitberücksichtigt werden.

Soziologische Suizidtheorie nach Durkheim 1897

Drei Grundtypen: Suizid ist vor allem eine Störung in der Beziehung Individuum & Gesellschaft.
a) Egoistischer Selbstmord. Mangelndes Gemeinschaftsbewusstsein. Entfremdung, Vereinsamung, Isolierung des Individuums.
b) Altruistischer Selbstmord. Starke Abhängigkeit von Gesellschaft und gering ausgeprägte Individualität.
c) Anomischer Selbstmord. Individuum leidet an Regel- und Grenzlosigkeit seines Handelns. Die Gesellschaft ist keine regulative Kraft. Je stärker die Gesellschaftlichen Normen akzeptiert werden, um so weniger Menschen bringen sich um. Im ungekehrten Fall nehmen die Suizide zu.

Psychoanalytische Suizidtheorie von Freud 1917

  • Depression: Depressive Menschen weisen Entwicklungsstörungen auf aus oraler (Urvertrauen), analer (Macht) und genitaler (Oedipus) Phase auf.
  • Enttäuschung: Hassgedanken bei Enttäuschung/Kränkung richten sich gegen denjenigen, den er einst geliebt und der ihn jetzt so enttäuscht hat. Darauf ist er stark fixiert.
  • Selbstanklagen: Anklage gegen den erlittenen Objektverlust. Er wird in einen Ich-Verlust umgewandelt.
  • Mordimpulse: Mordimpulse befriedigen sich durch Selbstmord. Suizid löst Aggressionskonflikte.
  • Selbstbestrafung: Im Suizid wirken immer Selbstbestrafungstendenzen mit, als Reaktion auf ein strenges Über-Ich.

 

Frage der Vererbung

Selbstmord liegt nicht an den Genen. Vererbt wird Neigung zu Gemütserkrankungen, endogene Depression mit erhöhtem Selbstmordrisiko. Gehäuftes Auftreten innerhalb einer Familie, kann mit weitergegebenen Todesbotschaften zusammenhängen.

Stresstheoretische Erklärungsansätze

Hypothese: Eine Person zeigt eher suizidales Verhalten, je höher die Anzahl stresshafter Biographischer Ereignisse ist. Verlust einer Bezugsperson, Schulschwierigkeiten etc. Eine sehr wichtige Rolle spielt die subjektive Einschätzung der belastenden Situation.

Lernpsychologische Ansätze

  • Grundgedanke: Suizidales Verhalten, wie jedes andere Verhalten (neurotisch, psychotisch), ist auf Lernprozesse zurückzuführen.
  • Konfliktstrategie: Suizidales Verhalten ist "gelernte Konfliktstrategie, genauso wie die erlernte Hilflosigkeit.
  • Erfolg/Misserfolg: Negative Vorbildwirkung von tatsächlichen (Freunde, Bekannte) oder in den Medien dargestellten Suizidhandlungen. Suizidvorbilder wirken nur bei vorhandener "Prädisposition" für Suizid. An der Fernsehserie "Tod eines Schülers" konnte zum erstenmal der "Werther Effekt" nachgewiesen werden.
  • Suizidversuch: Ein Selbstmordversuch löst erhöhte Zuwendung aus. Wird als Methode vom Betroffenen wieder verwendet. Angehörige sind oft schockiert, beschämt und werden misstrauisch. Ziehen sich zurück.

Folge: grössere Isolierung des Selbstmörders.


Psychodynamische Suizidtheorie

Stadium: Anschluss einer krankhaften psychischen Entwicklung. Davon gibt es drei Phasen: Stadium der Erwägung, Stadium der Ambivalenz, Stadium des Entschlusses.
Präsuizidales Syndrom: Eine dem Selbstmord vorausgehende Befindlichkeit. Zeigt sich schon lange vor dem Suizid. Das sind folgende Symptome:

  • 1. Symptom: Einengung, Bedrohung, Überforderung. Negative Wahrnehmung von Gebote und Verbote. Gegenwart/Zukunft ist düster und schwarz. Kindheit erscheint traurig und leer. Grundstimmung ist grüblerisch, anklagend. Sucht Einsamkeit. Vertrauensverlust in sich und andere.
  • 2. Symptom: Betrachtet Welt voller Vorwürfe. Aggressionsobjekt: Vater, Mutter, sowie Autoritätspersonen und ehemalige heissgeliebte Freunde oder Freundinnen. Ist Aggressionsobjekt zu übermächtig folgen Aggressionshemmungen. Daraus folgt ohnmächtige Wut und Verbitterung. Genugtuung mit dem eigenen Tod andere bestrafen. Zum Beispiel unter den Zug springen. Damit wird der Lokführer und die prädestinierte Zuginsassen bestraft. Bestrafft mittels Traumatisierung.
  • 3. Symptom: Flucht und Selbstmordphantasie. Jugendliche träumen tot zu sein, klammern aber das Sterben noch aus. Beginnen das "Wie" zu planen. Entwickeln ein Zwangsdenken über die Methode. Es folgt in dieser Phase fast immer eine Ankündigung. Hilferufe verdeutlichen sich in Briefen, Gedichte und Zeichnungen.

Weitere Hilferufe: Leistungsverweigerung, Schulschwänzen, von zu Hause weglaufen, von den Eltern abwenden, keine Gesprächsbereitschaft.

 

Ernsthaftigkeit von Suizid abschätzen

  • Parasuizidale Pausen: Wunsch nach Zäsur, einfach abschalten. Ruhe haben ohne direkt sterben zu wollen. Zustand wird oft durch Tabletten und Alkohol erreicht. Gilt als Suizid mit hohem Wiederholrisiko.  
  • Parasuizidale Geste: Appell an Mitmenschen um einen Mitmenschen zu finden, der auch an Selbstmord denkt. Er wird gefunden. Jetzt besteht hohes Wiederholungsrisiko.
  • Autoaggression: Autoaggression im Vordergrund. Eindeutiger Wunsch zum sterben. Nun wird rechzeitiges Auffinden des Suizidversuchs sehr unwahrscheinlich. Suizidmethode mit hoher Erfolgswirkung.
  • Abschätzung: Anhand dieser Einteilung lässt sich die Ernsthaftigkeit von Suizidversuchen abschätzen. Wie ausgeprägt ist der Wunsch zu sterben, wie wahrscheinlich ist rasches Auffinden "Gleichgesinnter", welche Suizidmethode wird erwähnt?

 

Vorbeugung/Prävention

  • Ziel: Information und Aufklärung über Entstehungsbedingungen psychischer Störungen. Stärkung der sozialen Kompetenzen.
  • Hauptaufgaben: Erhalt der psychischen und physischen Gesundheit des Jugendlichen.
  • Nachsorge: Therapeutische Arbeit mit Jugendlichen nach Suizidversuche und mit Angehörigen.
  • Schule: Über Not und Verzweiflung reden. Thema des Suizids enttabuisieren. Hilfsmöglichkeiten aufzeigen. Beratungsstellen, Internet, usw.
  • Gesellschaft: Mehr Toleranz für Jugendliche, familiäre Bindungen fördern. Verfügbarkeit von Medikamenten und Drogen einschränken. Berichterstattung von Suizid versachlichen. Ausbau psychosozialer Versorgungssysteme.
  • Resilienz: Stärkung der Widerstandsfähigkeit Jugendlicher gegenüber Belastungen. Dabei ist der wichtigste Schutzfaktor die Entwicklung von Lebenskompetenz.
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